Hl. Justin von Celije

Kommentar zum Hl. Evanglium nach Matthäus



 

 

 

 

Mit freundlicher Genehmigung des Klosters des hl. Hiob von Počaev veröffentlicht.
Im Original erschienen in: Bote 1995, 4

 

5,21-22
Wir zürnen nicht aus Rache und nicht um unserer selber willen, sondern um der Beschränkung der Widerspenstigen willen und um der Hinwendung der Gleichgültigen auf den richtigen Weg willen. Wenn wir aus Rache zürnen, was der Apostel Paulus verbietet (Röm. 2,19); wenn wir um Geld zürnen, was derselbe Apostel nicht zuläßt (1. Kor. 6,7). “Wer vergeblich seinem Bruder zürnt, der wird dem Gericht überantwortet; wenn aber jemand wegen der Erbauung seines Bruders und aus geistlichem Eifer heraus zürnt, der wird nicht verurteilt werden. Denn Paulus sagt zornige Worte dem Zauberer Elim und dem Hohenpriester, nicht etwa ohne Grund, sondern aus Eifer”1.
Die Worte des Heilands:”gegen deinen Bruder” bedeuten: gegen jeglichen Menschen, wen auch immer, denn alle Menschen sind Kinder des Einen Himmlischen Vaters, und dadurch untereinander Brüder (Hebr. 2,11). Die Worte “dem Gericht schuldig” bedeuten die Verantwortung und die Schuld vor dem Gericht des Gottmenschen Christus, dem geistlichen und ewigen Gericht, das nicht nur für Totschlag verurteilt, sondern genauso für zornige Gefühle, zornige Gedanken und Worte. Sagt er aber seinem Bruder „Raka“ so wird er vor dem Synedrion schuldig sein – dem höchsten jüdischen Gericht in Jersualem. Der Herr erwähnt das Synedrion, damit man nicht denkt, daß Er in allen Dingen Neues und Fremdes lehrt2.
Das Wort “Raka“ ist ein chaldäisches Wort, welches die Juden zur Zeit Christi als Schimpfwort benutzten. Es bedeutet: ein leerer, nichtiger Mensch. Der menschenliebende Herr verurteilt die Verwendung dieses Wortes, da für Ihn und Seine Nachfolger selbst der größte Sünder das gottähnliche Antlitz der Seele nicht verloren hat, damit man einen solchen Ausdruck auf ihn anwenden könnte: Dummkopf. Damit fordert der menschenliebende Herr von seinen Leuten ein menschenliebendes Verhältnis gegenüber jedem Menschen und die Achtung jeder menschlichen Persönlichkeit. Deshalb überantwortet Er jeden Menschen, der seinem Bruder zürnt und der seinen Zorn durch das Wort “Raka“ ausdrückt, dem Gericht.
Es ist eine gottmenschliche Wahrheit: wer seinem Bruder sagt: du Dummkopf, der wird der Gehenna des Feuers schuldig sein (Vers. 22). In anderen Worten: wer in seinem Zorn irgendeinen Menschen, der nach dem Ebenbild der Dreieinigen Gottheit geschaffen ist, derart erniedrigt, daß er ihn als Dummkopf bezeichnet, der wirft sich selbst ins Höllenfeuer. Vielen erscheint dieses Gebot des Heilands als streng und grausam; und es könnte dies tatsächlich sein, wenn dieses Wort nicht die völlige Negierung der gottähnlichen Seele in diesem Menschen bedeutete, auf den es gerichtet ist. Der Hl. Chrysostomos sagt: wenn du deinen Bruder dessen beraubst, wodurch wir uns von den Tieren unterscheiden und was uns in erster Linie zu Menschen macht, d.h. des Verstandes, so beraubst du ihn damit jeglichen <kfujhjlcndf3. Viele sagen und meinen, daß dieses Urteil schwer und streng sei. Doch dies ist nicht so. Denn wie ist derjenige nicht der Hölle würdig, der seinen Bruder des Verstandes und Geistes beraubt, d.h. dessen, wodurch wir uns von den Tieren unterscheiden? Wer beleidigt und erniedrigt, der zerstört die Liebe; und mit der Zerstörung der Liebe werden auch alle Tugenden zunichte gemacht, so wie sie erhalten werden, wenn sie zugegen ist. Wer also die Liebe bricht und alle Tugenden vernichtet, der ist deshalb auch der Hölle würdig4.

Der Zorn hat verschiedene Stufen, aber selbst der allergeringste Zorn und die allergeringste Beleidigung, die einem Bruder zugefügt wird, macht uns der Gemeinschaft mit Gott unwürdig. Der Heiland frohbotschaftet: “Deshalb, also, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe. Sei willfährig deinem Widersacher bald, solange du noch mit ihm auf dem Wege bist, auf daß dich der Widersacher nicht überantworte dem Richter und der Richter dem Diener und werdest in den Kerker geworfen.” – Oh, Güte! Oh, unsagbare Menschenliebe, ruft der Hl. Chrysostomos bei der Erklärung dieser Worte des Heilands aus. Der Herr gebietet, die Verehrung Ihm gegenüber um der Nächstenliebe willen einzustellen. Möge der Dienst an Mir aufhören, sagt Er, damit deine Liebe erhalten bleibt, denn auch das ist ein Opfer für Gott – die Aussöhnung mit dem Bruder. Deshalb sagt Er nicht: sühne dich aus, nachdem du die Gabe gebracht hast, sondern Er schickt zur Aussöhnung mit dem Bruder, wenn die Gabe vor dem Opfertisch liegt und die Darbringung des Opfers schon begonnen hat. Mit diesem Befehl verfolgt der Herr ein zweifaches Ziel. Zunächst will Er zeigen, daß Er die Liebe für das größte Opfer hält, daß die Liebe zu Gott ohne Nächstenliebe unmöglich ist; zweitens will Er betonen, daß die Aussöhnung mit dem Bruder, d.h. mit jedem beliebigen Menschen, vollkommen unumgänglich ist und daß der Altar des Herrn weder Gebete noch Gaben annimmt, wenn der Darbringende etwas gegen jemanden hat, oder jemand etwas gegen ihn hat. Christus lehrte nicht: Versöhne dich, wenn du sehr betrübt bist, sondern tue dies auch dann, wenn jemand etwas gegen dich hat. Und Er fügte nicht hinzu: sei es nun gerechtfertigt oder ungerecht, sondern einfach: wenn er etwas gegen dich hat5.
Das Wort “mit...” bedeutet einen Menschen, der beleidigt wurde; der Weg zum Richter – die Zeit des menschlichen Lebens auf der Erde; der Richter ist der Herr Gott, und der Diener – der Engel (vgl. Mt. 3, 19–41; 24, 31); das Gefängnis – der Ort der ewigen Qual (vgl. 1. Petr. 3,19; 1. Petr. 2,4.9; Jud. 6; Apog. 20, 7). Mit Seiner Lehre vom Zorn beweist der Herr eines: Der Zorn führt nicht nur zum Mord, sondern auch in die Hölle. Andernfalls bleibt unsere Seele in Todesgefahr. Verurteilt wird nicht nur derjenige, der tötet, sondern auch der, der das Gebot Christi von der Sanftmut, von der Liebe verletzt und nicht Buße tut. Die Sünden des Zornes und der Erregbarkeit – diese Mörder unserer Seele – müssen wir noch während unseres Lebens auf der Erde durch Selbstzüchtigung in Reue abtragen, solange unser Weg zum ewigen Leben noch nicht durchschritten ist, solange wir noch nicht vor Gott als unserem Richter stehen.

Das Gebot: du sollst nicht ehebrechen
5,27-32
Unter allen Geschöpfen ist der Mensch eines der kompliziertesten: er ist aus Materie und Geist gewebt; dabei ist beides unendlich geheimnisvoll und rätselhaft. Beides übersteigt die Grenzen des Sichtbaren und Unsichtbaren, übersteigt sie in solchem Maße, daß ihr ganzes Geheimnis im unbegrenzten Gott und Herrn liegt, diesem heiligsten und allerheiligsten Geheimnis jenseits aller Geheimnisse. In allem ist der Mensch gleichzeitig ein sichtbares und unsichtbares Wesen. Und so sind auch alle Äußerungen seines Körpers und seiner Seele beschaffen: Unsichtbar im Sichtbaren und Sichtbar im Unsichtbaren.

Ihr habt gehört, daß gesagt ist: “Du sollst nicht ehebrechen”. Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Nach der Lehre des Alten Testaments ist der Ehebruch eine Sünde, und zwar in stärkerem Maße eine körperliche Sünde als eine geistliche. Diese Sünde wird durch das Siebente Gebot des alttestamentlichen Gesetzes verboten: “Du sollst nicht ehebrechen!” (Ex. 20, 14). Ehebruch ist nur dann Ehebruch, wenn daran der Körper teilnimmt, wenn er physisch in Erscheinung tritt. Doch der Herr Jesus Christus schürft tiefer, wenn Er lehrt, daß Ehebruch nicht nur dies ist, sondern ebenso jeder sinnliche und lüsterne Blick, jegliche unzüchtige Neigung des Geistes. Deshalb verkündet Er eine neue Wahrheit: “Aber Ich sage euch: Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen”(V. 28). Wurzel und Ursache der Unzucht liegen im Geist; die körperliche Unzucht ist lediglich die Materialisierung der geistlichen und geistige Unzucht. Ein Blick auf eine Frau mit der Absicht der Befriedigung der Fleischeslust ist an sich Ehebruch im Herzen. Nach dem alttestamentlichen Gesetz ist die Sünde das Begehen des Ehebruchs selbst; nach der Lehre Christi aber liegt eine Sünde auch dann vor, wenn der Ehebruch im Herzen begangen wird, welches das Zentrum der geistlich-materiellen Bestandteile der menschlichen Natur darstellt. Wenn Christus bereits einen unzüchtigen, wollüstigen, sinnlichen Blick als Sünde bezeichnet, verletzt er dadurch nicht das alttestamentliche Gebot, sondern ergänzt es so, wie Er auch das alttestamentliche Gebot “du sollst nicht töten” durch das Gebot über den Zorn ergänzte. Wer das Gebot Christi erfüllt, übertritt keineswegs das alttestamentliche Gebot. Der Heiland spricht von der Sünde des Menschen, aber es ist selbstverständlich, daß dies auch die Frauen betrifft, denn Er weiß, daß Mann und Frau ein Wesen sind, und deswegen unterscheidet Er nirgends das Geschlecht”6.

Der Heiland verkündet: “Wenn dir aber dein rechtes Auge Ärgernis schafft, so reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. Wenn dir deine rechte Hand Ärgernis schafft, so haue sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.” – In der Tat macht die Seele das Auge zum Auge; sie ist ihr wichtiger Inhalt; es lebt durch sie, lebt und bewegt sich durch sie. Das Auge ist lediglich eine Waffe der Seele, ein Organ der Seele; das Auge schaut durch die Seele, und die Hand wird durch die Seele gelenkt; so auch die übrigen Teile des Körpers. Wenn das Auge eine Frau mit Lustgefühlen betrachtet, dann schaut tatsächlich aus ihm die Seele wollüstig. Die gesamte Tätigkeit des Auges hängt von den Eigenarten der Seele ab. Der Hl. Chrysostomos christologisiert: Der Herr gibt dieses Gebot und verurteilt damit nirgends den Körper, sondern klagt überall den verdorbenen Willen an. Nicht dein Auge schaut, sondern der Geist und das Herz7.
“Denn von innen, aus dem Herzen der Menschen gehen böse Gedanken hervor: Unzucht, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, List, Schwelgerei, Mißgunst, Lästerung, Hoffart, Unvernunft” (Mk. 7, 21-23). Eine böse Seele macht das Auge böse, schlecht, wollüstig. In einem wollüstigen Auge wohnt ein wollüstiger Geist, ein wollüstiges Gefühl. Daher bedeutet auch das Gebot und die Frohbotschaft Christi: “Reiß es aus und wirf es von dir” nicht: reiß das körperliche Auge aus, sondern reiß den begierigen Gedanken, das begierige Gefühl aus, das dein Auge zu einer Waffe der Fleischeslust macht; reiß sie aus und werfe sie fort, damit sie nicht wiederkehrt und dein Auge besetzt. Wenn der Mensch sein wollüstiges geistiges Auge nicht ausreißt, kommt er in Gefahr, daß sich diese Begierde über den ganzen Körper ausbreitet, ihn beherrscht und ihn zu einem gehorsamen Sklaven macht. Ein in Begierde getauchter Körper, ein von der Wollust geknechteter Körper, ein von der Sünde gelenkter Körper wird letzten Endes in die Hölle hinabgezerrt. Aber nicht nur der Körper, sondern genauso auch die Seele, denn der Körper ist ohne die Seele tot: Eine von dem Körper geknechtete Seele führt auch den Körper in die Sklaverei der Sünde. Die Worte des Heilands “der ganze Körper” bedeuten den ganzen Menschen; sowohl Körper als auch Seele; alle Glieder der Seele und des Körpers werden zu ewigen Qualen verdammt. Denn sowohl die Seele als auch der Körper sind zur Unsterblichkeit und zum ewigen Leben geschaffen; weder Leib noch Seele sind für die Unzucht, sondern für den Herrn; genauso sind weder das Auge noch die Hand für die Unzucht geschaffen, sondern für den Herrn (vgl. 1. Kor. 6, 13-18). Wie die Seele, so auch der Körper, wie das Auge, so auch die Hand müssen der Sünde sterben und dem Herrn leben, für das ewige Leben lebendig werden.

Der menschenliebende Heiland verkündet: “Es ist auch gesagt: Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr geben einen Scheidebrief. Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, daß sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene freit, der bricht die Ehe.”
In seinem Gesetz befiehlt Mose: Wenn jemand seine Frau haßt, so soll er sich von ihr trennen, damit nichts Schlimmeres passiert, denn wer seine Frau haßt, kann sie aus Haß umbringen. Wenn der Mann seine Frau entließ, mußte er ihr ein Entlassungsschreiben geben8. Eine solche Lage der Frau war sehr schwer. Der Heiland sagt an anderer Stelle, daß ein solches Gesetz der Juden wegen der Härte ihrer Herzen gegeben war (Mt. 19, 8; Mk. 10, 2-12). Unser Herr Jesus Christus stellt die von Gott gegebene Wichtigkeit ud Heiligkeit der Ehe wieder her. Und wenn Er die Worte aus dem Alten Gesetz anführt, zeigt Er dadurch, daß Er nichts Entgegengesetztes lehrt, sondern etwas, was in Übereinstimmung damit steht, daß Er die alte Lehre stärkt, berichtigt, ergänzt, aber nicht zerstört9.
Der Ehebruch ist eine Sache, die die heilige Einheit der Ehe zerstört und damit die von Gott gegebene Einheit zwischen Mann und Frau vernichtet. Deshalb ist nach der Lehre des Herrn der Ehebruch der einzige rechtmäßige Grund für eine Ehescheidung. Wenn sich ein Mensch von seiner Frau oder eine Frau von ihrem Mann aus irgendwelchen anderen Gründen scheiden läßt, so gibt dies der geschiedenen Seite Anlaß, Ehebruch zu begehen. “Der Herr verletzt nicht das Gesetz Mose, sondern berichtigt es, indem Er dem Mann untersagt, seine Frau grundlos zu hassen. Wenn er sie aus dem rechten Grund entläßt, d.h. wegen Ehebruchs, dann unterliegt er nicht dem Gericht; wenn er sie jedoch nicht wegen Ehebruchs entläßt, dann unterliegt er dem Gericht, denn er gibt ihr dadurch den Anstoß zum Ehebruch. Aber auch derjenige, der sie annimmt, ist ein Ehebrecher, denn wenn er sie nicht annähme, kehrte sie vielleicht zu ihrem vorherigen Mann zurück und unterwürfe sich ihm”10.